Fernreisen sind Luxus. Bei einer Rundreise durch Südafrika sieht man so viele verschiedene Highlights: Landschaft, Geologie, Naturdenkmäler, wilde Tiere ... aber der bewegendste Eindruck war der Ausflug in die Township von Oudtshoorn in der Kapregion (17. März 2015).
Früh am Morgen sind wir von unserer Unterkunft in Knysna losgefahren durch die Kleine Karoo, eine Halbwüste zwischen den Swaartbergen im Norden und der Randstufe im Süden. Nach dem Besuch in den Kango Caves (Tropfsteinhöhle) und auf einer Straußenfarm waren wir zum Mitttagessen bei Allie in Oudtshoorn. Allie hatte Straußensteaks zubereitet, vorzüglich und sehr zart. Dazu gab es Salat und kalte Getränke (Wasser, Wein, Bier, Eistee). Allie ist freischaffende Künstlerin und betreut die Zwillinge Thapelo und Tumelo, die aus der Township kommen und ein eigenes Unternehmen gründen wollen. Auf dem Weg dahin finanzieren sie sich durch Mittagessen und geführte Township-Tours für Reisegruppen, die ein- bis zweimal pro Woche ankommen.
Nach dem Essen stieg Tumelo in unseren Bus und nahm das Mikrofon. Während wir langsam durch die Township fuhren, zeigte er uns Einiges und erläuterte auf Englisch. Die Hintergründe hatten uns unsere Reiseleiter schon vorher erklärt: Wie Townships entstehen, welche Zustände dort herrschen, wie die Menschen dort leben, wie Behörden und karitative Einrichtungen versuchen zu helfen ... die Kurzfassung ist: Die Menschen ziehen vom Land in die Stadt, weil sie hören, dass es dort Arbeit gibt und billiges Essen und Strom und insgesamt ein weniger anstrengendes Leben als auf dem Land. (Oder sie werden vom Staat zwangsweise umgesiedelt, weil unter ihrer Heimat Diamanten entdeckt wurden.) Also ziehen sie in die Nähe der Stadt und bauen eine Hütte aus irgendwelchen Teilen, die sie finden.
Die Behörden versuchen mitzuhalten, indem sie Straßen und Kanalisation bauen, Wasser- und Stromleitungen legen, aber über eine rudimentäre Versorgung kommen sie nicht hinaus, weil die Townships zu schnell und unkontrollierbar wachsen. Immerhin gibt es in jeder Township Krankenhäuser, Schulen, Kirchen und ein Einwohnermeldeamt, aber natürlich decken auch diese Einrichtungen den Bedarf längst nicht. Der Staat baut auch Unterkünfte und sanitäre Einrichtungen, aber oft nur halbfertig. In Oudtshoorn wurden die Arbeiten an den Unterkünften abgebrochen, als der Staat aufhörte, den Bauarbeitern ihren Lohn auszuzahlen.
Weil es keine Arbeit gibt, sind Kinder die sicherste Einkommensquelle. Der Staat zahlt eine geringe Unterstützung (500 Rand pro Monat?) für alleinerziehende Mütter, außerdem gibt es Kindergeld. Insgesamt reicht das aus, um nicht zu verhungern, wenn niemand in der Familie das Geld versäuft. Alkohol ist in allen Townships ein Problem. Kriminalität ebenfalls.
Zusätzliche Spannungen gibt es in den Townships wegen der Bewohner, die aus den Nachbarländern Mosambik und Zimbabwe kommen, denn diese haben oft mehr kaufmännische Erfahrung (business skills) und decken den Bedarf für Dienstleistungen in den Townships (Haare schneiden, Autos waschen, Einzelhandel usw.). Die populistische Floskel "SIE NEHMEN UNS DIE ARBEIT WEG" ist hier leider gar nicht so abwegig, aber es müsste natürlich in Wahrheit heißen: "Sie zeigen uns, wie man Geld verdient, aber wir können nicht mitmachen."
Das Wichtigste für die vielen Kinder in der Township ist Bildung. Die Schulen und die karitativen Einrichtungen bemühen sich, neben dem Unterricht auch pädagogisch wertvolle Freizeitangebote zu schaffen. Allie sagte uns, das nächste große Projekt sei ein Kino, in dem die Kinder sich nach der Schule beschäftigen können. Zuhause läuft ohnehin der Fernseher (wenn einer da ist) den ganzen Tag, aber damit die Kinder nicht nur Mist konsumieren, ist so ein Kino prima. Der Volksglaube ist in Afrika sehr stark, Aufklärung tut überall Not. Es gibt zum Beispiel viele Märchen über AIDS, besonders darüber, wie man immun gegen AIDS wird: Durch Knoblauch und Vitamin C, durch Sex mit einer Jungfrau, durch Vorhaut-Beschneidung ("Get wise - circumcise") ...
Darum muss man in den Townships jede Möglichkeit zur Aufklärung nutzen. Zum Beispiel Graffiti: "Respect Life", "Wake Up Young People: Danger Drug Abuse", "Be Always Yourself": für religiöse Toleranz.
Trotz der Armut und obwohl die weißen Touristen wie Zoobesucher durch die Township brausen und gaffen, sind die meisten Einwohner freundlich und winken und lächeln. Ich weiß nicht, ob es in allen Townships so ist. In Oudtshoorn hatte ich jedenfalls das Gefühl, dass die Grundbedürfnisse der Menschen erfüllt sind: Essen, Trinken, grundlegende Hygiene, Gemeinschaft. Vor allem die Kinder schienen entsprechend zufrieden und vergnügt.
Unser Ausflug führte schließlich zu einer Familie in Township, die jedesmal bei dieser Tour besucht wird. Auf einem kleinen Grundstück mit drei Hütten, einer Sickergrube und einem Garten (!) lebt Mama Louisa, außerdem ihre Töchter und deren Kinder sowie einige Pflegekinder, deren Eltern krank oder verstorben oder Alkoholiker sind. Insgesamt zwölf Menschen in drei kleinen Hütten. Bei den Touristen-Besuchen sind immer auch viele Kinder aus der Nachbarschaft da, denn hinterher gibt es für alle ein Eis. Als wir mit dem Bus ankamen, wurden wir am Gartentor von Mama Louisa begrüßt und sahen die Kinder im Garten spielen. Dann stellten sie sich auf und sangen und tanzten. Sie hatten drei Lieder für uns einstudiert, darunter ein Soldatenlied und eine Version von "Bruder Jakob".
Danach sahen wir uns die Hütten an. Eine Küche, Schlaf- und Wohnzimmer (= Schlafzimmer, aber mit Fernseher). Düster und eng, jeder Raum kaum größer als das Bett darin. In der Küche krabbelten große Insekten auf dem Sicherungskasten. Die Verständigung lief auf Englisch, was in Südafrika jeder in der Schule lernt. Aber genau wie in Deutschland heißt das nicht, dass alle auch wirklich Englisch sprechen. Wir erfuhren von zwei Töchtern von Louisa, dass sie 23 und 18 sind (die Ältere hatte ein Kind von 4 Monaten) und beide keine Arbeit haben und nicht verheiratet sind. Arbeitssuche aussichtslos. Studium und Ausbildung sind in der Township keine Optionen.
Aber in Mama Louisas Schlafhütte sahen wir den ganzen Stolz der Familie an der Wand: Hochzeitsfotos, Schulzeugnisse der Kinder, Belobigungen ("Special Merits in Language & Friendlyness") und laminierte Zeitungsartikel (Kind gewinnt Lesewettbewerb). Bildung ist der wichtigste Wert in dieser Familie, Anstrengung im Rahmen des Möglichen und solider Lebenswandel. Ein beeindruckendes Zeugnis des Humanismus.
Dazu passt auch, dass selbst bei der ärmlichsten selbstgebauten Hütte vier saubere, ordentliche Schuluniformen auf der Leine hängen.